Müssen wir unsere Leistungsgrenzen stets erreichen?

Müssen wir unsere Leistungsgrenzen stets erreichen?

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Neulich habe ich von einer Regel einer Elitetruppe gehört, ich glaube, es waren die Navy Seals: „Wenn Du denkst, es geht nichts mehr, hast Du erst 40% Deiner Leistungsreserven ausgereizt.“

Toll! Wir können also doppelt so hart arbeiten und sind auch erst bei 80%! Das ist eine gute Meldung für alle Arbeitgeber, und erinnert mich an eine andere Geschichte: Eine Mutter geht mit ihrem Kleinkind über die Straße. Das Kind reißt sich los, rennt vor ein Auto und wird überfahren. Es liegt unter dem Kleinwagen, ist eingeklemmt und brüllt. Und die Mutter, in heller Verzweiflung, schafft es, den Wagen so weit anzuheben, dass der Kleine befreit werden kann. 50 kg gegen 0,7 Tonnen! Dem Kind war nichts Schlimmes passiert.

Reicht Motivationstraining?

Wie konnte die Mutter das schafften? Nun, sie war hochgradig motiviert. Also müssen wir nur unsere Mitarbeiter motivieren lassen – Motivationstrainer gibt es ja wie Sand am Meer – und schon läuft die Firma mindestens doppelt so gut! Und dann müssen wir natürlich noch das Controlling anspitzen, damit es die Leistung misst, und wer nicht 100% schafft, wird rausgeschmissen. Minderleister sind nicht akzeptabel! Wir sind schließlich kein Erholungsheim!

Pech für die Arbeitgeber, Glück für die Arbeitnehmer: so einfach ist das nicht. Kein Trainer schafft es, die Leute länger als bis zur nächsten Pinkelpause zu motivieren, wenn in der Firma ein demotivierendes Klima herrscht. Fragen Sie die Leute, die völlig begeistert aus dem Training gekommen sind, nach ein paar Stunden, was sie behalten haben. Sie werden Ihnen erzählen, wie mitreißend der Redner war, wie positiv und wie toll. Doch den Transfer in den Alltag werden sie in den seltensten Fällen schaffen.

Wie werden Mitarbeiter wirklich motiviert?

Denn nicht jeder Tipp ist für jeden geeignet und die Tipps müssen sofort ausprobiert und geübt werden. Das geht aber nur, wenn der Seminarteilnehmer im Arbeitsalltag nicht hoffnungslos überlastet ist und das Klima in der Firma das Üben zulässt. Die Firma muss den Mitarbeitern so viele Freiheiten lassen, dass sie ihre eigene Arbeitsweise entwickeln können. Dabei machen sie Fehler, sonst brauchten sie nicht zu üben, und das muss akzeptiert werden. Meist haben gerade die Firmen, deren Umsatz zurückgeht und die denken, es läge an der mangelnden Motivation der Mitarbeiter, ganz andere, systemische Probleme. In vielen Fällen wird schlicht das Kongruenzprinzip verletzt: Aufgaben, Verantwortung und Entscheidungsbefugnisse passen nicht zusammen. Oder in den Führungsetagen sitzen zu viele profilneurotische Narzissten. Oder die Organisation stimmt nicht, formale und reale Führung stimmen nicht überein. Das Problem ist jedenfalls keines, was durch noch so viel Motivation der „Indianer“ gelöst werden könnte.

Ach ja, wenn dann noch das Controlling anfängt zu kontrollieren! Dann erinnern die Prozesse der Firma an ein IT-Programm im Debugging-Modus: die stetig geforderten Rückmeldungen bremsen es aus. Oder der Arbeitsalltag erinnert an einen Marathonläufer, der währen des Wettkampfs ständig Blutdruck, Puls, Atmung, Blutzucker und Muskelübersäuerung messen und weitermelden muss. So kann ihm dann der Trainer nach jeder Runde anschreien: „Du bist noch nicht an der Leistungsgrenze! Deine Zahlen beweisen es! Tu endlich was, Du fauler Sack!“

Effizienzsteigerung ist eine Falle!

Im Ernst, wenn ständig nach Effizienzsteigerung gerufen wird, wenn ständig „höher, schneller, weiter!“ gefordert wird, führt das nur zu Erschöpfung, es steigert keineswegs das Ergebnis. Wenn die Effektivität vergessen wird, wenn also keiner mehr hinterfragt, ob das, was getan wird, noch sinnvoll ist, dann wird zwar doppelt so schnell Mist produziert, aber es bleibt Mist. Die Schere zwischen den Zielen des Unternehmens und den Bedürfnissen der Kunden darf nicht weiter auseinandergehen, sonst lohnt die ganze Anstrengung nicht.

Wer keine Zeit hat, nach links und rechts zu schauen, wer keine Kapazitäten hat, neues auszuprobieren und dabei auch einmal Fehler machen darf, wer ständig an der Leistungsgrenze arbeitet, der schafft nichts Neues. Der optimiert nur altbekannte Vorgehensweisen, Verfahren und Methoden. Was wir aber brauchen, sind echte Innovationen, wir brauchen die Ideen eines jeden Mitarbeiters, wenn wir gegen Milliarden fleißige, billige Chinesen am Markt bestehen wollen. Denn Best-Practise-Verfahren nachmachen können die besser als wir, dazu braucht es nur Gehorsam, keine eigenen Ideen.

Motivation im Projekt

Das gilt auch für unsere Projekte. Wenn wir unsere Projekte nur auf Effizienz trimmen, wir das Projekt wahrscheinlich schnell abgeschlossen, aber nicht das richtige Ergebnis bringen. Und dann waren wir nicht effektiv und noch nicht einmal effizient, sondern nur teuer und nutzlos. Wir als Projektleiter müssen also unser Projekt gegen den ständigen Effizienzdruck abschirmen. Die Aufgaben brauchen die Zeit, die sie brauchen, sie kosten das Geld, das sie kosten, wir sollten das Magische Dreieck aus Zeit, Kosten und Qualität vehement vertreten. Die Projektleiter bei VW haben das nicht ausreichend getan, sie haben auf Druck von Oben gepfuscht. Jetzt sind etliche arbeitslos – die Projektleiter, nicht die Chefs!

Fazit

Der Mensch hat Leistungsgrenzen, die er nicht straflos überschreiten kann. Auch die Navy Seals wissen: Die Leistungsreserve jenseits der 40% darf man nur kurzzeitig übertreten, dann ist eine Ruhepause notwendig. Und die Motivation zur Überschreitung der Leistungsgrenze erreicht man nicht durch Motivationstrainer, sondern durch ein motivierendes Arbeitsumfeld. Wollen Sie die Kreativität der Mitarbeiter nutzen, brauchen diese Freiräume, Zeit und Gelegenheit zum Ausprobieren und zum Fehler machen. Nur Roboter können ständig 100% Leistung bringen, und die sind nicht kreativ.

Autor: Roland Scherer

Roland Scherer, Jahrgang 1951, Buchautor, systemischer Personal und Life-Coach. Ausbildung und Zertifizierung zum Psychologischen Berater und Coach. Sein Schwerpunk liegt auf lösungsfokussierte Gesprächsführung, systemisches Denken und Handeln und Aufstellungen. Er praktiziert seit Jahren im Rahmen der Begleitung seiner Klienten Systemische Aufstellungen, wobei er die Systemische Struktur-Aufstellung nach Insa Sparrer und Mathias Varga von Kibéd als besonders hilfreich erfahren hat.

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