Laios muss nicht sterben

Laios muss nicht sterben

Heute wende ich mich an die Väter unter uns, genauer gesagt an die Väter von Söhnen. Es geht um das Verhältnis zu unseren Söhnen. Übrigens gehöre auch ich zu dieser Gruppe.

Zugegeben, das hat nicht direkt etwas mit dem Beruf zu tun, aber die Arbeitsbelastung ist für uns oft der Grund, weshalb wir uns weniger um unsere Kinder kümmern, als es gut wäre. Mittlerweile jedoch dürfen sich Berufstätige mehr Familienorientierung wünschen.

Wenn es um soziale oder familiäre Probleme geht, lohnt sich ein Blick in Sagen und Märchen. Sie haben oft eine tiefe innere Weisheit, die gleichnishaft archetypische Vorkommnisse klar macht. Unter anderem beschäftigt sich die Ödipus-Sage mit der Vater-Sohn-Problematik. Erinnern Sie sich noch?

Die Ödipus-Sage

Laios (deshalb der Titel) und Iokaste sind das Königspaar von Theben. Das Orakel hat ihnen geweissagt, dass ihr Sohn seinen Vater umbringen und die Mutter heiraten würde. Als ihnen also ein Sohn geboren wird, lassen sie das Neugeborene im Gebirge aussetzen – das war damals eine probate Methode, unerwünschte Kinder loszuwerden.

Der Sohn wird dennoch gerettet und von seinen Zieheltern Ödipus genannt. Durch einen unglücklichen Zufall tötet er seinen Vater – er kennt ihn ja nicht. Später wird er sogar König von Theben und bekommt aus dynastischen Gründen Iokaste, die ja seine Mutter ist, zur Frau. Mit ihr zeugt er vier Kinder. Als seine unwissend begangenen Schandtaten aufgedeckt werden, blendet er sich selbst und geht mit seiner Tochter und Stiefschwester Antigone in die Verbannung. Iokaste bringt sich um.

Der Ödipus-Komplex

Siegmund Freud hat von diesem Drama den Ödipus-Komplex abgeleitet. Das ist ein psychoanalytisches Phänomen, das angeblich bei jedem Sohn auftritt, laut dem er seine Mutter begehrt und seinen Vater umbringen will.

Ich halte die Psychoanalyse für nicht besonders hilfreich, zumindest haben sich viele ihrer Aussagen in den letzten hundert Jahren überlebt. Ich lehne auch Freuds Interpretation der Ödipus-Sage ab und schlage stattdessen eine andere vor, deren Kernsatz ist:

„Hätte Ödipus seinen Vater gekannt, hätte er ihn nicht erschlagen.“

Die Interpretation für die heutige Zeit

Meiner Meinung passt diese Interpretation der Sage viel besser in unsere moderne Welt. Sie lässt die Sage in einem anderen Licht erscheinen, denn sie legt mehr Wert auf die dramatischen Ereignisse, die sich ereignen können, wenn sich Vater und Sohn fremd sind. Und, meine Herren, geben wir es zu: das passiert öfter, als uns lieb ist.

Zugegeben, das Berufsleben ist herausfordernd, und wir wollen unsere Familie gut versorgen. Wenn wir uns als den Ernährer der Familie sehen, ist das auch unsere Pflicht. So sorgen wir also für unsere Kinder, indem wir ihnen fern sind, indem wir die meiste Zeit unseres Lebens im Büro verbringen. Kommen wir nach Hause, sind die Kinder schon im Bett. Wenn wir morgens aus dem Haus gehen, sehen wir sie, wenn wir Glück haben, vielleicht kurz. Später, wenn die Kinder länger auf sind und wir die Möglichkeit haben, sie öfter zu sehen, sind wir ihnen fremd geworden. Was hat das für Folgen für Vater und Sohn?

Der vaterlose Sohn

Zum einen hat der Sohn kein männliches Vorbild. Er kennt Mütter, Kindergärtnerinnen und Lehrerinnen, aber keinen Mann. Und weil er nicht weiß, was ein Mann ist, sich aber trotzdem als männlich definieren will und muss, wird er zur Nicht-Frau, zu einem Menschen, der alles weibliche für sich ablehnt.

Da sich sein Vater ihm entzieht und ihm fremd wird, wird der Sohn diesen auch symbolisch erschlagen, indem er ihn aus seinem Leben verbannt. Vorbilder findet er im Außen, in seiner Peer-Group, in der Gewalt als Mittel der Auseinandersetzung akzeptiert ist, die hierarchisch strukturiert ist und in der der Einäugige die Blinden führt. So wird er nie erwachsen, bleibt sein Leben lang ein alt gewordener Pubertierender.

Dadurch, dass er seinen Vater symbolisch umbringt, erschlägt er aber auch das Männliche und somit einen Teil seiner selbst, so wie Ödipus sich geblendet hat. Und da er kein männliches Vorbild kennt und nie bevatert wurde, ist sein einziges Vorbild, wie sich ein Mensch um den anderen kümmern kann, das Bemuttern. So wird er sich eine Frau suchen, die ihn bemuttert, er wird seine Mutter heiraten, mit allen ungesunden Konsequenzen, die das hat.

Der sohnlose Vater

Ein Vater, der seinen Sohn nicht kennenlernt, wird für den Sohn, aber auch für sich selbst, bedeutungslos. Denn wenn er schon einen Sohn gezeugt hat, hat er auch die Verantwortung übernommen, sich in männlicher Art und Weise um ihn zu kümmern, ihn zu bevatern. Das weiß Vater und auch Sohn intuitiv. Wenn er das nicht leistet, bekommt er Angst vor dem mächtiger werdenden Sohn und vor dem Alter. Das ist die Angst des Silberrückens, der als Erwachsener Gorilla die Horde anführt, vor seinem Sohn, der ihn entthronen wird.

Hat sich ein Mann ausreichend um einen Sohn gekümmert, so kann er auch im Alter dessen Mentor bleiben. Er behält also auch im Alter, wenn er sein Zepter weitergegeben hat eine Aufgabe, denn er hat das Vertrauen und die Anerkennung seines Sohnes. Ein Sohn, der nicht bevatert wurde, wird seinen Vater im Alter, wenn der nicht mehr der Ernährer ist, als bedeutungslos betrachten, als zum alten Eisen gehörend. Denn er kennt die anderen Fähigkeiten seines Vaters nicht, und er kann auch nicht anerkennen, wie sich dieser für die Familie aufgerieben hat. Für den Sohn war der Vater nie da, er fühlt sich von ihm abgelehnt. Auf subtile Weise wird sich sein Sohn rächen: er wird nicht für seinen Vater da sein, wenn der ihn braucht.

Fazit

Liebe Väter, jetzt habe ich zwar ein düsteres Bild gezeichnet. Aber Ihr habt es selbst in der Hand, ob daraus Wirklichkeit wird. Klar, auch Eure Töchter brauchen Eure Zuwendung, auch Ihnen müsst Ihr zeigen, was ein Mann ist. Aber Eure vorzügliche Aufgabe ist es, Eure Söhne zu Männern zu erziehen. Zu Männern, die Gefühle haben dürfen, die Kriegerkraft haben, das Weibliche anerkennen und Ältere wegen ihrer Erfahrung ehren können. Diese Aufgabe könnt Ihr nicht Euren Frauen überlassen, dazu brauchen Eure Söhne Euch, Euer Vorbild und Eure Zeit.

Autor: Roland Scherer

Roland Scherer, Jahrgang 1951, Buchautor, systemischer Personal und Life-Coach. Ausbildung und Zertifizierung zum Psychologischen Berater und Coach. Sein Schwerpunk liegt auf lösungsfokussierte Gesprächsführung, systemisches Denken und Handeln und Aufstellungen. Er praktiziert seit Jahren im Rahmen der Begleitung seiner Klienten Systemische Aufstellungen, wobei er die Systemische Struktur-Aufstellung nach Insa Sparrer und Mathias Varga von Kibéd als besonders hilfreich erfahren hat.

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