Von Reynolds lernen

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Laminare Strömung (Wikipedia)

Laminare Strömung (Wikipedia)

Stellen Sie sich ein Rohr vor, durch das eine Flüssigkeit transportiert werden soll. Damit diese fließt, müssen wir eine Druckdifferenz zwischen der Einström- und der Ausströmöffnung aufbauen, z.B. durch eine Pumpe. Wir fangen mit einer kleinen Druckdifferenz an, das Medium strömt langsam, geordnet, linear. Laminar nennt das der Strömungstechniker.

Nun soll aber die Anlage effizienter werden, soll also mehr Flüssigkeit transportieren. Kein Problem, wir erhöhen den Druck, die Flüssigkeit wird schneller. Und noch mehr Druck – und noch schneller. So geht das eine ganze Weile weiter.

Der kritische Druck

Aber das Rohr war teuer, es soll noch mehr Nutzen aus ihm gezogen werden. So wird der Druck noch einmal erhöht. Und plötzlich, wirklich schlagartig, fördert das Rohr weniger Flüssigkeit. Die Strömung ist umgeschlagen, von laminar zu turbulent. Es sind Wirbel entstanden, die Strömung beschäftigt sich praktisch mit sich selbst. Ein beträchtlicher Teil der hereingesteckten Energie, also der Druckdifferenz, wird in den Wirbeln verbraten und nicht zum Flüssigkeitstransport verwendet.

Kein Problem, wir senken den Druck ein bisschen, um wieder in den laminaren Zustand zu kommen. Aber das System hustet uns etwas – die Strömung bleibt turbulent. Wir müssten die Anlage eine ganze Zeit mit stark verminderter Geschwindigkeit fahren, vielleicht sogar ganz anhalten, damit sich der laminare Zustand wieder einstellt.

Wie läuft das bei Menschen?

Das kommt uns doch bekannt vor, oder? Man erhöht den Druck auf eine Arbeitsgruppe – oder gleich eine ganze Firma -, der Durchsatz steigt. Prima, mehr vom Selben: Druck weiter erhöhen, noch mehr Durchsatz. Doch auch hier gibt es einen Umschlagpunkt: Der Krankenstand steigt plötzlich, die Arbeitsmoral – was auch immer das ist – fällt, Mobbing nimmt zu, jeder macht nur noch Dienst nach Vorschrift, um möglichst wenig angreifbar zu sein. Und so beschäftigt sich die Arbeitsgruppe mehr mit sich selbst, als dass sie Output generiert.

Versuchen Sie jetzt nicht, den Schuldigen zu finden: es gibt ihn nicht. Genau so wenig, wie Sie das Strömungsteilchen finden können, das am turbulenten Umschlag schuld ist, weil es sich als erstes gedreht hat: an dem liegt es nicht, es liegt am Gesamtsystem. Für Reynolds, dem Physiker, war es vergleichsweise einfach. Er konnte aus dem Rohrdurchmesser, den Eigenschaften des Fluides und dessen Geschwindigkeit eine Kennzahl bilden. Überschreitet diese einen bestimmten Wert, ist die Strömung höchstwahrscheinlich turbulent.

Wir aber haben es mit Menschen zu tun, und da lässt sich keine einfache Kennzahl bilden, auch wenn BWLler das immer wieder behaupten. Wir merken oft erst, dass etwas schief läuft, wenn das Kind schon in den Brunnen gefallen ist. Und dann versuchen wir gegenzusteuern und sind in der gleichen Situation wie der Strömungstechniker mit seiner turbulenten Strömung: um wieder laminar, das heißt effizient zu werden, müssten wir das ganze System anhalten. Wie aber hält man eine Arbeitsgruppe an? Selbst wenn wir sie auflösen, überforderte Mitarbeiter haben im Unterschied zum Strömungsteilchen ein Gedächtnis und nehmen die toxische Erfahrung in die nächste Gruppe mit. „Alles auf null!“ funktioniert nicht.

Dummerweise kann man eine laminare in eine turbulente Strömung auch vor Erreichen der kritischen Reynoldszahl umschlagen lassen, indem man sie stört, zum Beispiel durch einen Draht oder eine heftige Erschütterung. Bei einer Arbeitsgruppe kann ein solches Störelement ein Mitarbeiter mit toxischen Erfahrungen sein.

Überforderte Mitarbeiter, was tun?

Was also tun? Wir sollten von Anfang an führen, so, dass es erst gar nicht zu einem kritischen Zustand kommt. Ist das aber nun einmal passiert, sollten wir rasch einige Maßnahmen einleiten:

  1. Erkennen Sie an, dass Sie den Druck unzulässig gesteigert haben, auf ein Maß, das für die Gruppe in dieser Situation nicht erträglich war.
  2. Erkennen Sie an, dass selbst die widersinnigsten Maßnahmen der Mitarbeiter nur der Versuch war, mit der unerträglichen Situation klar zu kommen.
  3. Nehmen Sie den Druck zurück, wenn es sein muss auf null. Die Firma wird durch ein oder zwei unproduktive Tage nicht untergehen.
  4. Verplempern Sie keine Zeit mit der Suche nach dem Schuldigen.
  5. Hören Sie den Mitarbeitern zu, solange die schimpfen ist noch Hoffnung. Widerstand ist das Angebot zur Mitarbeit.
  6. Fragen Sie die Mitarbeiter, wie sie die Kuh vom Eis holen würden. Fragen Sie lösungsfokussiert. Stellen Sie keine „Warum“-Fragen, die weisen in die Vergangenheit.
  7. Hören Sie auf die Vorschläge der Mitarbeiter, gehen Sie wertschätzend mit ihnen um. Das heißt nicht, dass Sie sie blind befolgen.

Wir müssen also das System, das turbulent oder chaotisch geworden ist, stärken. Die Wirbel sollen sich tot laufen, auf die Gefahr hin, dass einige Zeit keine produktive Arbeit geleistet wird – jetzt ist Arbeit am System angesagt, also Führung. Und nach dem Neustart bitte die Gruppe genau beobachten, sie ist noch anfällig und muss beim ersten Anzeichen von Herzflimmern erneut gestärkt werden.

Das Prozedere ist nicht einfach und erfordert viel Fingerspitzengefühl. Es ist sinnvoll, das ganze System zu betrachten, also systemisch zu denken und handeln. Sie haben noch keine Erfahrung damit? Ich begleite Sie gerne.

PS: Die Strömungstechniker unter Ihnen mögen mir verzeihen, dass ich die komplexen Zusammenhänge so vereinfacht habe. Aus Gründen der Verständlichkeit hielt ich das für notwendig.

Autor: Roland Scherer

Roland Scherer, Jahrgang 1951, Buchautor, systemischer Personal und Life-Coach. Ausbildung und Zertifizierung zum Psychologischen Berater und Coach. Sein Schwerpunk liegt auf lösungsfokussierte Gesprächsführung, systemisches Denken und Handeln und Aufstellungen. Er praktiziert seit Jahren im Rahmen der Begleitung seiner Klienten Systemische Aufstellungen, wobei er die Systemische Struktur-Aufstellung nach Insa Sparrer und Mathias Varga von Kibéd als besonders hilfreich erfahren hat.

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