Projekte wehren sich gegen Change-Management
Die Tage hat mir ein Projektleiter eine E-Mail geschrieben, in der er mich sinngemäß gefragt hat, warum sich Systeme so gegen Veränderungen wehren. Er hätte das zwar in Büchern über Systeme gelesen, aber so richtig begreifen würde er das trotzdem nicht. Was da beschrieben würde, wäre ja alles richtig und er hätte es ja bei einem kleinen Change-Projekt am eigenen Leib erfahren, aber die Gründe für die Sturheit eines Systems würden ihm nicht einleuchten.
Es fällt sehr schwer, das Verhalten eines Systems zu verstehen – auch mir, und ich bin in systemischem Denken geschult. Am besten, man versucht einmal, Systeme mithilfe einfacher Modelle zu beschreiben. Da gib es zum Beispiel das Beton-Modell.
Das Beton-Modell
Wichtig sind im Beton die Sand- und Kieskörner. Sie sind die Elemente des Systems Beton. Aber auch der Zement spielt eine wesentliche Rolle. Er hält die Sandkörner zusammen und macht aus einem Sandhaufen einen Betonklotz. Er stellt also die Beziehungen der Elemente her.
Das Beton-Modell ist zwar ganz einleuchtend, aber es beschreibt die Verhältnisse in einer Firma aus zwei Gründen nicht ausreichend: Zum einen sind die Elemente des Firmensystems nicht nur mit ihren direkten Nachbarn in Verbindung, sondern auch mit Elementen, die weit von ihnen entfernt sind. Zum zweiten, auch wenn man manchmal den Eindruck hat, eine Firma sei so unbeweglich wie ein Betonklotz, stimmt das trotzdem nicht. Will man einen Betonklotz ändern, muss man ihn zerschlagen. Eine Firma reagiert elastisch auf Einwirkungen von außen und die Verbindungen unter den Elementen werden ganz ohne Change-Projekt immer wieder gelöst und neu geknüpft, was das ganze System ändern kann.
Das Gummistrippenmodell
Deshalb gefällt mir das Gummistrippen-Modell besser. In ihm ist jedes Element mit einer Gummistrippe mit den anderen Elementen, mit denen es in Beziehung tritt, verbunden. So lassen sich in einem Change-Projekt diese Gummistrippen entweder neu verknüpfen, es lassen sich neue Verbindungen schaffen und alte lösen. Und die Gummistrippen können verformt werden.
Das System beim Change-Projekt
Nehmen wir nun einmal ein ideales Change-Projekt her. Alle sind sich einig, dass der alte Prozess nicht (mehr) taugt. Er mag zwar einmal ganz passend gewesen sein, und es gibt sicherlich Gründe, warum er so und nicht anders implementiert wurde. Inzwischen jedoch hat er sich überlebt.
Unser junger Projektleiter macht sich nun voller Tatendrang daran, einen neuen Prozess zu entwerfen. Er wendet neuste Techniken und Forschungsergebnisse an – sein Wissen stammt frisch von der Uni. Schließlich stellt er seine Entwicklung der Geschäftsleitung, also den Auftraggebern vor. Alle sind begeistert und er bekommt grünes Licht.
Er hat sogar schon an einigen Stellen probeweise Änderungen durchgeführt – also an ein paar Gummistrippen gezupft – und festgestellt, dass das gar nicht so schwer war. Deshalb rollt den neuen Prozess jetzt aus. Zuerst gibt es keine Probleme, er hat sogar Anfangserfolge.
Und dann setzt das ein, was an anderer Stelle die allergische Reaktion des Systems genannt wurde. Es kracht. Grandios.
Die allergische Reaktion des Systems
Was ist passiert? Um das zu verstehen, müssen wir wieder zu unseren Gummistrippen zurück. Bei zwei Prozessbeteiligten hat man nur eine Gummistrippe, bei vieren sechs und bei zwanzig schon 190! Für den, den es interessiert, die Anzahl der Gummistrippen, nennen wir sie „m“, berechnen sich aus der Anzahl der beteiligten Elemente, hier „n“ genannt, wie folgt: m=1/2*(n*(n+1)) Das ist ein quadratischer Zusammenhang! Unser junger Kollege ist also nicht an einer einzelnen Gummistrippe gescheitert, sondern er ist durch die schiere Masse der Strippen erstickt worden. Dabei hat sich keiner der Beteiligten willent- und wissentlich gegen die Änderung gesträubt (wie gesagt, es ist ja ein ideales Change-Projekt), jeder hat nur seine alten Strippen wie gewohnt unter Spannung gehalten.
Wenn jetzt alles schief läuft und der Auftraggeber den Mechanismus nicht versteht, geht die Suche nach dem Schuldigen los: es muss der Projektleiter sein, der hat den neuen Prozess nicht ordentlich designet. Oder es war der Abteilungsleiter der Abteilung, in der es am meisten gekracht hat. Oder die vielen alten Angestellten, die fett und unbeweglich geworden sind. Oder, oder, oder. Je nach politischer Wetterlage wird also ein Schuldiger gefunden und vielleicht sogar gefeuert. Und dann wird an den Symptomen herumgebastelt: Eine Arbeitsanweisung von „ganz oben“ folgt hastig der nächsten, bis der zu Beginn so einfache und einleuchtende Prozess zu einem undurchschaubaren Konglomerat an Ausnahmen und Ausführungsbestimmungen wird und sich so nur noch mühsam voranschleppt und vielleicht sogar noch schlechter funktioniert als der alte Prozess.
Was ist schief gelaufen?
Jeder weiß es: Der Fehler muss eigentlich wo ganz anders liegen, aber keiner kann den Finger darauf legen. Dabei ist die Lösung ganz einfach! Man muss nur die allergische Reaktion vermeiden. Und wie heißen die passenden Antihistaminika?
Sie heißen Kommunikation und Beteiligung der Betroffenen.
Wenn die Auftraggeber den neuen Prozess akzeptieren, ist das prima, weil das Projekt ansonsten kein grünes Licht bekommen. Aber mindestens genauso wichtig ist, dass die Beteiligten sich darauf vorbereiten, ihre Gummistrippen loszulassen und durch neue zu ersetzen. Sie werden das nicht unvorbereitet tun, denn wenn sie plötzlich die Strippen loslassen müssten, würden sie ja völlig haltlos durch die Gegend schweben. Sie haben so die Gelegenheit, sich die neuen Strippen schon einmal zurechtzulegen, vielleicht schon probeweise daran zu ziehen, damit sie wissen, dass sie halten. So haben sie die Sicherheit, die alten Strippen ein bisschen locker zu lassen, damit das ganze System ein Spiel bekommt. Schließlich muss noch der alte Prozess, der so lange gute Dienste geleistet hat, gewürdigt werden. Denn die Leute, die den alten Prozess, die alte Struktur mit Leben erfüllt haben, waren ja nicht blöd, es gab bisher nur keine bessere Lösung. Das ist ein Fehler in vielen Change-Projekten, die vorherige Lösung wird in Bausch und Bogen für dumm erklärt. Das erzeugt Widerstand, weil ein systemischer Grundsatz verletzt wurde.. Und wenn das alles erledigt ist, dann, aber wirklich erst dann, kann der Rollout kommen.
Ich habe dieses Vorgehen schon einmal in einem anderen Blogbeitrag beschrieben („Viel Feind – kein Ehr“), ich möchte ihn hier nicht noch einmal wiederholen. Im heutigen Blogbeitrag geht es darum, aufzuzeigen, warum Systeme ein solches Beharrungsvermögen zeigt. Ich hoffe, das ist mir gelungen.
Wenn Sie mehr über systemisches Denken und Arbeiten erfahren möchten, dann kontaktieren Sie mich.